Seien Sie der Regisseur Ihrer Gedanken
Sie kennen bestimmt das Gefühl, dass Sie als Süchtige(r) oft nur noch wie ein Roboter sind, dass Sie sich plötzlich von einem Moment auf den anderen fremdbestimmt fühlen. Der Duft von fettigen Pommes, der Gedanke an Bier oder Schnaps, zu wissen, dass in der Nähe eine Spielhalle ist, die Pornos nur einen Mausklick entfernt, was immer Ihre Droge ist….
und schon verlieren Sie die Kontrolle, als würde jemand anders in Ihnen übernehmen und Ihre Gedanken und Ihren Körper Richtung Kühlschrank, Spielhalle, Kneipe oder Sexkino bewegen – egal ob Sie das in Wirklichkeit wollen oder nicht!
Genau hier, ganz am Anfang dieses Prozesses, wenn dieser Roboter wieder loslegt – da müssen Sie reagieren und eingreifen! Und Regisseur Ihrer Gedanken werden.
Der typische Weg ist nämlich jetzt, dass so ein bewusster oder unbewusster Auslöser den Roboter in Ihnen hervorruft. Dann setzen Sie sich in Bewegung – und zwar mit vollem Einsatz: Ihre Gedanken drehen sich jetzt immer mehr ums Essen, Saufen, Zocken, Pornos… je nachdem, was Ihre Sucht ist.
In Ihnen entsteht eine enorme Spannung, die sich erst dann auflöst, wenn Sie Ihrem Druck nachgeben und zu Ihrer Droge greifen.
Wenn der Roboter in Ihnen loslegt, dann können Sie eine Methode anwenden, die man auch Gedankenstopptechnik nennt.
Schauen Sie mal im Internet und googeln Sie mal „Gedankenstopptechnik“ und „Verhaltenstherapie“.
Die Gedankenstopptechnik besagt nun, dass Sie Ihren Roboter mit einem brutalen Dazwischengehen stoppen sollen. Konkret heisst das: in dem Moment, in dem es in Ihnen anfängt zu kribbeln, wenn der erste Druck kommt, dann reißen Sie Ihre Arme hoch, klatschen laut in die Hände und schreien „Stopp!“
Moment mal, sagen Sie jetzt, ich soll mich an der Kasse im Supermarkt oder in der Fussgängerzone oder in der Kneipe nebenan plötzlich als Clown aufführen?
Nein, das sollen Sie natürlich nicht. Denn erstens sollen Sie das erstmal in Ruhe zu Hause üben, und zweitens können Sie das dann etwas abgewandelt in der Öffentlichkeit anwenden.
Aber der Reihe nach. Neurobiologisch sind alle Gedanken, die Sie haben – und somit auch die des Roboters in Ihnen – Prozesse zwischen Nervenzellen, bei denen bestimmte Botenstoffe Reize übermitteln. Das erkläre ich vielleicht einmal in einem anderen Blogbeitrag noch etwas ausführlicher.
Wenn jetzt plötzlich und unerwartet ein Klatschen und Schreien kommt, passiert im Gehirn so etwas, als wenn Tauben vor Ihnen die Brotkrümel vom Boden picken und plötzlich jemand in die Hände klatscht. Die Tauben fliegen wild entschlossen auseinander, kommen vielleicht nach einer Weile zurück, aber dann nicht mehr so zahlreich und nicht mehr so geordnet wie vorher.
Die chemischen und neurobiologischen Prozesse in Ihrem Gehirn werden plötzlich auch dramatisch durcheinandergebracht, denn durch das Klatschen und Schreien wird Adrenalin freigesetzt.
Adrenalin hat Vorrang vor allem Anderen im Körper, denn es ist der Stoff zum Überleben. Über Zehntausende von Jahren hat der Körper gelernt, dass Adrenalin in Gefahrensituationen ausgeschüttet wird, z.B. als wir damals auf der Jagd waren und plötzlich von einem wilden Tier angegriffen wurden.
Aber auch heute noch, z.B. in der Schule, als der Lehrer Sie plötzlich unerwartet nach vorne bat, um eine Aufgabe an der Tafel zu lösen, da haben Sie Adrenalin ausgeschüttet. Und unser Organismus hat über all die Tausende von Jahren gelernt, dass, wenn so etwas passiert, alles Andere erst einmal zurückgefahren werden muss.
Dies bedeutet, dass die chemischen und neurologischen Anordnungen, die der Roboter in Ihrem Gehirn produziert hat, weggespült werden, weggespült vom Adrenalin.
Sie können zwar wieder zurückkommen, in gleicher oder ähnlicher Form, aber zunächst einmal haben Sie im schlechtesten Fall Zeit gewonnen und im besten Fall die Gedanken dauerhaft, also vielleicht für den Rest des Tages oder für viele Stunden vertrieben.
Üben Sie also nun die Gedankenstopptechnik. Zunächst einmal, wenn Sie ganz allein sind. Setzen Sie sich gemütlich auf einen Stuhl oder auf Ihre Couch, und stellen Sie sich vor, wie Ihr Roboter loslegt. Vielleicht stellen Sie sich die Schokolade, die Würstchen, die Spielautomaten, die Kneipenumgebung, die nackten Körper oder was auch immer bei Ihnen zutrifft, bildhaft vor.
Und dann irgendwann, nach 20 oder 30 Sekunden, reißen Sie die Arme hoch, klatschen in die Hände und schreien ganz laut „Stopp!“.
Und öffnen die Augen. Und konzentrieren sich sofort auf die Dinge, die Sie in dem Augenblick sehen. Damit unterbrechen Sie nämlich nicht nur die chemischen Anordnungen in Ihrem Gehirn, sondern bieten Ihrem Gehirn auch sofort eine neue Anordnung, die nichts mehr mit der alten zu tun hat, z.B. könnten Sie nach dem Schrei dann das Fenster oder die Blumen oder den Tisch und das Geschirr wahrnehmen. Unterschätzen Sie diesen kleinen Schritt nicht – er ist sehr wichtig.
Idealerweise sollten Sie als nächstes auch noch einen Vertrauten bitten, das mit Ihnen zu tun. Das ist zwar nicht unbedingt notwendig, aber kann die Wirkung dieser Methode noch verstärken.
Was, ich soll jemandem von meiner Sucht erzählen? fragen Sie sich jetzt.
Nein, das sollen Sie nicht. Erfinden Sie eine Ausrede. Sagen Sie z.B., dass Sie in einem Buch gelesen haben, man könne die Konzentrationsfähigkeit steigern, indem man lernt, mit Ablenkungen umzugehen, und eine sehr effektive Ablenkung sei es, wenn jemand plötzlich in die Hände klatscht und laut schreit, während man selbst in Gedanken irgendwo ganz anders ist.
Konkret heisst das: Sie schließen die Augen und lassen Ihren Roboter wieder starten (und Sie erzählen Ihrem Bekannten natürlich nicht, was Sie da gerade vor sich sehen;)), und Ihr Bekannter klatscht plötzlich laut in die Hände und ruft „Stopp“, und Sie wissen vorher nicht genau, wann er oder sie das tut, so dass der Schockeffekt noch ein bisschen stärker ist und mehr Adrenalin ausgeschüttet wird.
Entscheidend ist nämlich, dass der Körper lernt, Adrenalin auszuschütten, wenn das Klatschen und der Ruf erfolgt. Deswegen ist es so hilfreich, dass auch ein Bekannter von Ihnen das mit Ihnen macht, denn dann ist der Adrenalinausstoss stärker und der Körper lernt das für Situationen später, in denen Sie selber klatschen und schreien.
Machen Sie das ein paar Mal, und machen Sie das spielerisch. Vielleicht hat Ihr Bekannter ja auch Lust, das mal auszuprobieren – ziehen Sie das ganze ruhig ein bisschen ins Lächerliche und erfinden Sie etwas, z.B.: „So ein Quatsch. Ich hab’ gelesen, dass man sich besser konzentrieren kann, wenn man das übt, aber das stimmt doch alles bestimmt nicht. Aber einen Versuch ist es doch mal wert…“.
Hauptsache, Sie fühlen sich halbwegs wohl dabei und können den Mut entwickeln, das mit einem Bekannten durchzuführen. Falls Sie Kinder in Ihrem Umfeld haben, ideal, denn denen macht so etwas Spass, und Sie haben erst gar keine Angst, Ihr Gesicht zu verlieren.
Alternativ könnten Sie es sich auch Band sprechen, z.B. 10 Minuten aufnehmen, davon die meiste Zeit gar nichts, und ab und zu ein lautes „Stopp“. Wenn Sie es dann laufen lassen, kommen die „Stopp“ auch ziemlich überraschend und haben den gleichen Effekt.
Wenn Sie das also ein paar Mal geübt haben, dann ist es so weit. Beim nächsten Mal, wenn der Suchtdruck, also Heisshunger, wieder kommt und Ihr fremdgesteuerter Roboter wieder loslegt, dann setzen Sie die Gedankenstopptechnik ein und sehen, was passiert.
Haben Sie keine Angst, es mehrmals zu probieren, beim ersten Mal gehen die Gedanken vielleicht nur für drei Minuten weg und kommen dann wieder. Dann machen Sie es erneut. Und wenn sie dann nach ein paar Minuten wiederkommen, dann machen Sie es zum Dritten mal, und so weiter.
Entscheidend ist nämlich auch, dass das menschliche Gehirn aufs Lernen programmiert ist. Wenn eine bestimmte Tat (in unserem Fall der gedankliche Zwang, jetzt sofort fressen, zocken, saufen oder Pornos gucken zu müssen) immer wieder eine negative Konsequenz hat (Adrenalinausstoss), dann lernt das Gehirn irgendwann, dass es diese Tat am besten nicht mehr durchführt.
Dies kann allerdings dauern. Für manche Menschen funktioniert die Gedankenstopptechnik gut, für andere setzt hingegen eine Art Gewöhnung ein. Das müssen Sie für sich selbst herausfinden. Vielleicht können Sie in Ihrem Fall die Gedankenstopptechnik mit einer der anderen Tipps hier im Blog oder mit Tipps aus dem kompletten Lavario-Selbshilfeprogramm verbinden, oder Sie wandeln die Technik ein wenig ab, dazu schreibe ich gleich noch etwas.
So weit so gut. Die beschriebene Technik kann ja ganz gut funktionieren, so lange Sie alleine sind, zuhause oder im Auto oder sonstwo.
Was aber, wenn Sie unter Menschen sind, im Büro, in der Stadt, in einer Bar, in einem Geschäft, am Strand im Urlaub?
Jetzt gibt es drei Möglichkeiten.
Erstens: Sie können – wie gerade eben vorgeschlagen – mit einem Diktiergerät oder Ähnlichem arbeiten, sprechen sich das „Stopp“ vorher selber drauf und lassen das über Kopfhörer laufen.
Zweitens, Sie nehmen sich ein oder zwei Minuten und entfernen sich von den Menschen, z.B. indem Sie auf die Toilette gehen oder in eine ruhigere Seitenstrasse oder in den Park um die Ecke… und dann führen Sie die Gedankenstopptechnik in abgeschwächter Form durch, d.h. Sie schreien nicht, sondern rufen halblaut (achten Sie im Büro darauf, dass Sie allein auf der Toilette sind und Ihr Ruf nicht so laut ist, dass man Ihn noch draußen hören kann).
Der Adrenalinausstoss ist zwar einerseits nicht ganz so stark, andererseits lenken Sie Ihre Gedanken aber auch schon dadurch ab, dass Sie sich plötzlich darauf konzentrieren müssen, einen ruhigeren Ort zu finden.
Und wenn Sie die Arme nach oben reißen, und das in der Öffentlichkeit tun, können Sie ja immer noch so tun, als hätten Sie Muskelverspannungen in der Schulter oder etwas Ähnliches. Sie massieren sich vielleicht ein wenig den Nacken und machen ein Gesicht, als fühlten Sie Schmerzen, falls jemand Sie komisch anschaut.
Die dritte Möglichkeit ist, sich das ganze gedanklich vorzustellen. Wenn Sie das mit dem Händeklatschen und „Stopp“ rufen ein paar Mal geübt und angewendet haben, können Sie es sich auch vorstellen, sich also vorstellen, wie Sie die Hände hochreißen, klatschen und „Stopp“ rufen. Und danach die Aufmerksamkeit sofort auf alles richten, was Sie in dem Moment wahrnehmen.
Und das i-Tüpfelchen ist dann, wenn Sie sich jedes Mal, wenn Sie die Gedankenstopptechnik anwenden, egal, ob allein und laut oder in Gesellschaft und leise, bildlich noch den Roboter in sich vorstellen und wie Sie als neuer Regisseur Ihrer Gedanken ihn zurechtweisen.
Sehen Sie ihn vor sich, machen Sie sich ein Bild von ihm, sehen Sie ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, sehen Sie, wie er seine Sachen zusammenpackt, vor sich hinmurmelt und abzieht. Stellen Sie sich das so bildlich, so realistisch wie möglich vor. Geniessen Sie das Gefühl, stellen Sie sich diesen Roboter als Ihren Gegner vor, den Sie erfolgreich vertrieben haben, über den Sie triumphiert haben.
Lassen Sie ein Glücksgefühl in Ihnen zu, lassen Sie dem Adrenalinstoss ganz viele Endorphine (das sind Glückshormone) folgen, so wird das Gehirn auch konditioniert, diese Übung immer wieder zu machen, weil es lernt, dass es eine Belohnung bekommt.
Vergesssen Sie nicht: ich gebe in diesem Blog Tipps, was man gegen die Sucht tun kann. Es sind viele kleine Dinge. Ein Ding allein reicht nicht aus, um die Sucht zu besiegen. Aber jeder dieser Tipps kann wieder ein bisschen Erleichterung verschaffen.
Um dauerhaft von der Sucht loszukommen, sollten Sie einen spezialisierten Therapeuten aufsuchen oder sich zunächst einmal an eine Selbsthilfegruppe wenden. Oder unser komplettes Selbsthilfeprogramm als Einstieg wählen. Haben Sie selber gute Tipps? Oder Fragen? Nutzen Sie das Kommentarfeld hier untendrunter und schreiben Sie uns.
Tipp eines geheilten Lavario-Patienten:
“Bei mir hat diese Übung erst dann funktioniert, als ich die Kamera von meinem Handy noch dazugenommen habe. Nachdem ich innerlich geklatscht und Stopp gerufen habe, habe ich ein Foto von mir selbst gemacht. Ich war vorher fast von Sinnen in meiner Gier, und dann kam ich irgendwie wieder zu mir selbst, als ich mein Gesicht sah. Ich fand drei, vier andere Sofort-Übungen für mich persönlich zwar besser, aber trotzdem, am Anfang hat mir jeder Strohhalm geholfen. Hinterher waren diese Sofort-Sachen ja eh nicht mehr so wichtig. Aber zu Beginn hat es mir halt geholfen, mein Gesicht zu sehen und mir nochmal vor Augen zu halten, dass ich es bin, der gerade wieder diesen Mist veranstalten wollte.”