Wie überwindet man Selbstmitleid bei Esssucht?
Bei Deutschlandradio gab es ein interessantes Interview mit der Psychotherapeutin Christine Brähler. Darin ging es darum, dass wir nicht immer so hart zu uns selbst sein sollten.
Wir kritisieren uns nämlich ständig. Wir laufen bestimmten Idealvorstellungen hinterher. Und wenn wir diese nicht erreichen, verfallen wir in Selbstmitleid.
Das kann dann zu Niedergeschlagenheit, Depressionen und eben auch zu Sucht führen. Die Expertin schlägt vor, Selbstmitleid mit “Selbstmitgefühl” zu ersetzen. Du solltest dir gegenüber großzügiger sein. Dir zugestehen, dass du nicht perfekt bist. Dich so behandeln, wie du es mit deinem besten Freund tun würdest.
Was heißt das für Menschen mit Essproblemen?
Eine Esssucht verstärkt sich genau deshalb, weil man sich seine Essattacken nicht zugesteht. Man schämt sich, macht sich nieder, verfällt in Selbstmitleid. Diese negativen Gefühle betäubt man dann mit noch mehr Essen. Und fühlt sich danach noch schlechter. Ein Teufelskreis, den man durchbrechen muss.
Aber wie überwindet man Selbstmitleid und kommt zu Selbstmitgefühl? Mehrere Dinge können hier helfen. Zunächst einmal solltest du aufhören, dir unrealistische Ziele zu setzen.
“Ab morgen esse ich nicht mehr” funktioniert nicht. Wer sich so etwas als Ziel setzt, kann nur scheitern.
Stattdessen sage dir: “Morgen esse ich 10% weniger.” Oder:
“Statt 20 Tafeln Schokolade esse ich in den nächsten sieben Tagen nur 15.”
So etwas kannst du erreichen. Es ist ein realistisches Ziel.
Und du hast dann ein kleines Erfolgsgefühl, was gute Stimmung verbreitet.
Also ganz langsam aus der Sucht ausbrechen und nicht etwa alles auf einmal. Damit gewinnst du die Kontrolle über dein Verhalten zurück und kannst aus dem Selbstmitleid ausbrechen. Mitleid bedeutet aber auch, dass man leidet.
Du solltest aber nicht nur leiden, sondern da wieder herauskommen. Wie geht das?
Aktiv werden. Kleine Schritte. Sich neue Hobbys suchen. Ein ganz klein wenig sportlich aktiver werden. Entspannungsvideos auf YouTube gucken. Ein ganz klein wenig mehr Gemüse essen.
Und vor allen Dingen deinen verdrängten Problemen auf die Spur kommen. Selbst-Mitgefühl bedeutet ja, dass man mit sich fühlt.
Genau dieses mit-fühlen tust du bei einer Esssucht aber in der Regel nicht.
- Du verdrängst deine (unangenehmen) Gefühle,
- Du betäubst den Schmerz mit Essen.
Mitgefühl heißt aber, dass du dich selbst in den Arm nimmst.
Übungen mit dem Inneren Kind können hier sinnvoll sein. Vereinfacht gesagt: Du versetzt dich noch einmal in dich selbst, als du sechs, acht, zwölf Jahre alt warst. Sieh dein Leben damals. Riech es. Hör es. Schmeck es. Finde wieder zu dir selbst. Was du damals warst, das ist immer noch tief in dir drin. Reiche deinem inneren Kind die Hand. Verspreche ihm, dass du jetzt besser auf dich und das Kind aufpasst.
Zum Mitgefühl gehört auch, dir selbst zu verzeihen. Schreib alle Fehler auf, die du gemacht hast. Du hattest es oft nicht einfach im Leben. Du konntest es halt nicht besser. Viele “Fehler”, die du gemacht hast, sind nur allzu verständlich. Mach einen Haken dahinter und sag dir: Das Leben geht weiter. Und ich werde auch in Zukunft Fehler machen.
Hör auf, dich an dir selbst zu rächen.
Sehr viele – ja, sogar sehr sehr viele Menschen mit Esssucht wollen sich selbst bestrafen. Die meisten wissen das nicht einmal.
Im Unterbewusstsein sagen wir uns:
“Ich bin nichts wert. Ich habe die und die Fehler gemacht, also habe ich auch nichts Gutes verdient.”
Diese negativen Gedanken und Überzeugungen können ein mächtiges, unbewusstes Selbstbild formen, das uns ständig begleitet. Es ist, als hätten wir eine innere Stimme, die uns ständig erinnert, dass wir nicht gut genug sind, dass wir Fehler gemacht haben, und dass wir deswegen nichts Gutes verdienen.
Wenn dann etwas Gutes in unserem Leben passiert, zum Beispiel ein Lob oder eine Anerkennung, fühlt sich das unangenehm und fremd an, weil es nicht mit unserem negativen Selbstbild übereinstimmt. Das erzeugt eine Spannung in uns. Es ist, als gäbe es einen inneren Konflikt zwischen dem, was wir über uns selbst glauben (dass wir nichts Gutes verdienen), und dem, was tatsächlich passiert (dass uns etwas Gutes passiert).
Diese Spannung ist unangenehm und verwirrend. Um sie zu lindern, neigen wir dazu, uns wieder in Verhaltensweisen zu stürzen, die unser negatives Selbstbild bestätigen – in diesem Fall, indem wir uns überessen. Dadurch wird die Spannung gelöst, weil unser Verhalten jetzt wieder mit unserem negativen Selbstbild übereinstimmt.
Es ist, als würden wir uns sagen: “Siehst du, ich wusste es doch, dass ich nicht gut genug bin.”
Aber diese Art der Spannungslösung ist selbstzerstörerisch und führt nur zu weiterem Schmerz und Leid. Es ist wichtig, dieses Muster zu erkennen und zu lernen, wie man es durchbricht. Ein erster Schritt könnte sein, zu lernen, Mitgefühl für sich selbst zu haben und sich selbst zu verzeihen, auch wenn man Fehler gemacht hat.
Wenn du dir solcher Selbstmanipulation und Selbstmitleid erst einmal bewusst wirst, kannst du dein Verhalten auch einfacher ändern. Weil du dann mehr Selbst-Mitgefühl hast. Also besser fühlst, was in deinem Inneren eigentlich passiert. Dies alles ist sogar so wichtig, dass du damit beginnen solltest. Erst wenn sich das Verständnis für dich selbst verbessert, kann sich auch das Verhalten ändern.
Erst mehr Mitgefühl, dann weniger essen.
Nicht anders herum. Einfach nur versuchen, sich nicht mehr vollzustopfen, bringt nichts, wenn wir unsere Einstellungen uns selbst gegenüber nicht ändern.