Abstinenz, Alkoholentzug und Entzugserscheinungen
Abstinenz vom Alkohol und Alkoholentzug ist immer mit Entzugserscheinungen verbunden, körperlichen oder seelischen. Die meisten Fragen zu Alkoholsucht-Therapien drehen sich um diese Themen. Viel wichtiger wäre aber eigentlich zu klären, ob Abstinenz und Alkoholentzug überhaupt Sinn machen.
Vor 20 Jahren hätte man solch eine Frage gar nicht gestellt. Damals galt Abstinenz vom Alkohol und Alkoholentzug als einzig richtiger Weg, Menschen mit Alkoholproblemen zu helfen.
Mittlerweile bewegt sich allerdings etwas in der Alkohol-Therapie-Landschaft, wenn auch noch ganz langsam. Ermutigt von äußerst positiven Erfahrungen aus dem Ausland, gibt es nun auch in Deutschland die ersten Behandlungen, die nicht auf totalen Alkoholentzug und totale Abstinenz als Therapieziel setzen, sondern auf weniger Alkohol. „Kontrolliertes Trinken” und das Hilfe-bei-Sucht-Programm sind Beispiele dafür und mittlerweile berichtet sogar das Maganzin Der Spiegel darüber, dass weniger trinken oft sinnvoller ist als Abstinenz und Alkoholentzug.
Wodurch kommt es zu diesem Sinneswandel? Tatsache ist, dass fast 90% der Therapien gegen Alkoholsucht in Deutschland in der Vergangenheit gescheitert sind. Überlegt man sich dann noch, dass die meisten Alkoholiker oder Menschen mit Alkoholproblemen erst gar keine Behandlung beginnen, so ist das Gesamtbild verheerend. Alkoholsucht galt bisher als eine der am schwierigsten zu therapierenden Krankheiten. Ganz entscheidend liegt dies auch an den Entzugserscheinungen und an der Aussicht, nie wieder einen Tropfen Alkohol anrühren zu dürfen.
Abstinenz vom Alkohol und Alkoholentzug bringt vor allem bei körperlich Abhängigen enorme Entzugserscheinungen mit sich. Deshalb fürchten sich viele vor einer Behandlung. Jetzt ist es allerdings so, dass geschätzte 85% aller Betroffenen gar nicht körperlich abhängig sind, sondern „nur” psychisch alkoholabhängig. Du kommst nicht vom Alkohol los, weil Du glaubst, nur so seist Du „gut drauf”, kommst besser bei den anderen an, bist cooler, Du fühlst Dich entspannter usw. Für diese 85% der „Alkoholiker” ist ein Alkoholentzug und Abstinenz vom Alkohol überhaupt nicht zielführend. Ganz im Gegenteil.
Es ist einerseits abschreckend und nicht einsehbar, dass Du nie wieder einen Tropfen anrühren dürfest. Du machst die Behandlung dann schon ohne große Überzeugung. Früher oder später wirst Du „rückfällig” und gibst die Abstinenz auf. Gleichzeitig fühlst Du Dich schuldig und schämst Dich. Während des Alkoholentzugs hast Du gelernt, dass Alkohol verboten und schlecht sei. Schlimmer noch, Du hast nur „Null Alkohol“ gelernt. Somit kennst Du nur „Null Alkohol“ oder – wie vorher – zuviel Alkohol.
Genau vor diesem Hintergrund haben sich zunächst im Ausland und nun langsam auch bei uns Alkoholsuchtbehandlungen mit dem Ziel weniger Trinken ausgebreitet.
Wichtig ist, dass Dein Gehirn lernt, mit weniger Alkohol umzugehen, also ein Alkoholentzug auf Raten. Ziel muss sein, die Entzugserscheinungen so gering wie möglich zu halten. Anders als bei einer Abstinenz, bei der die Entzugserscheinungen den Alkoholiker quälen würden, fühlst Du sie bei einer schrittweisen Reduzierung des Alkohols kaum. Somit hast Du den Kopf frei, um Dich wirklich damit auseinanderzusetzen, warum Du überhaupt trinkst und welchen dahinterliegenden Problemen Du aus dem Weg gehst.
Genauso geht es darum, was die tagtäglichen Auslöser von Suchtdruck sind und Du lernst, anders mit ihnen umzugehen oder sie zu vermeiden.
Bei solch einem Alkoholentzug auf Raten – im Hilfe-bei-Sucht-Programm verringerst Du die Alkoholmengen um 10 – 20% pro Woche – geht es dann auch darum, wie Du idealerweise einen Rückfall verhinderst und was Du am besten tust, falls Du doch einmal einen Ausrutscher hattest.
Außerdem spielen auch neue Lebensziele eine wichtige Rolle, denn auch mit neuen, sinnvollen Alltagsaktivitäten lässt sich der Alkoholkonsum meist deutlich reduzieren. Wie eingangs erwähnt, muss es nicht immer totale Abstinenz und totaler Alkoholentzug sein. Es geht auch ohne Entzugserscheinungen – zumindest für die meisten Alkoholabhängigen.